Freitag, 3. Juni 2016

Wie erlebe ich eigentlich meine Mitmenschen?

Der April endete mit brutaler Hitze. Die indische Regierung hatte allen Schulen, nicht nur in West Bengalen, Hitzefrei auf unbestimmten Zeitraum erteilt. Temperaturen bis zu 45 Grad Celsius und eine ekelhafte Luftfeuchtigkeit machten uns das Leben schwer, weil wir nicht selten keinen Strom und dadurch auch keinen Fan hatten. Zu dieser Zeit bereitete mein tanzender Father Saju eine ausgewählte Gruppe von Mädchen aus der Umgebung, die seit vielen Jahren bei ihm tanzen, auf eine einmonatige Tanztournee durch das deutschsprachige Mitteleuropa vor. Und wenn Father Saju Vorbereitung sagt, dann sind das jeden mind. fünf Stunden tanzen und proben. Die Gruppe, die in vielen katholischen Institutionen aufgetreten ist, hat ein Dance-Drama vorbereitet, welches ein paar Wochen vor der Abreise in Patna, Bihar von ihnen uraufgeführt wurde. Für einige der Mädchen war es die erste Aufführung ohne ihre Eltern im Publikum und ein kleiner Vorgeschmack auf die Zeit in Europa. In der schulfreien Zeit hatte ich viel Freizeit. Jene habe ich genutzt um in der Schule ein wenig Gitarrenunterricht zu geben und in der Schulband mitzuwirken. Nach ein paar Tage hat mir Father Amulya, der sehr musikinteressiert ist und die Schulband auf die Beine gestellt hat, die Aufsicht und Leitung der 15-köpfigen Band für ein paar Wochen überlassen.
Unterbrochen wurde diese recht entspannte Routine vom Election Day. Wenn an jedem Tuktuk politische Fahnen und Banner hängen und die Straßen voll von Lautsprechern sind, die verschiedenste politische Botschaften über die Teiche und durch die Siedlungen posaunen, dann weiß man, dass bald eine Wahl ansteht. Die Wahlbeteiligung der Bevölkerung ist enorm. Jeder der kann geht zur Wahlurne, die die nicht gehen, würden es aber gerne. Meist wird jede Wahlurne von sogenannten Goondas, den Kleinkriminellen, beherrscht. Diese Menschen werden von einem der Parteifunktionäre durch Geld oder Geschenke angeheuert, oder ordnen sich aus politischen Interessensgründen einer Partei unter. Vor der Wahl sind sie die Propaganda-Maschine, während der Wahl halten sie, manchmal mit Gewalt, ausgewiesene Parteigegner von der Wahlurne ab. Das heißt, der jeweilige Name verschwindet auf einmal von der Wählerliste oder der Zutritt wird verweigert. In meinem Bezirk dominierte zum Glück eine Partei, weswegen es kaum Aufruhr gab. Doch wenn es zwei rivalisierende Parteien in einem Bezirk gibt, dann gibt es manchmal Verletzte, selten Tote. Nach der Wahl wird von der gewinnenden Partei ein großes Fest für die Goondas organisiert und die Verliererpartei muss sich gut verstecken, denn sonst, wie Father Thottam es sagte: „They will beat ‘em up!“
Nach der Wahlpanik ging aber wieder alles seinen Lauf. So bin ich in der folgenden Woche an drei Tagen um 3 Uhr morgens aufgestanden um mit Father Saju und einer Hand voll Arbeitern die drei Fischteiche abzufischen. Der erbeutete Fisch wurde dann noch am gleichen Morgen verkauft, brachte aber leider weniger ein, als wir für das Bevölkern der Teiche ausgegeben hatten. Zudem wurden zunehmend mehr Bananen geklaut, was die Laune von Father Saju trübte. Normalerweise hätten wir bei über 80 Bananen Palmen mind. 8 Stauden pro Woche, von denen wir 7-8 am Markt verkaufen würden, und jetzt bekommen wir gerade mal eine Staude in zwei Wochen. Das Prinzip dahinter ist einfach. Keiner möchte einsehen, dass es unser Eigentum ist. Meine Englischschüler pflücken unreife Guaven und Mangos um sich damit zu bewerfen. Wen ich ihnen erkläre, dass sie das nicht machen sollen wird nur „warum?“ gefragt. Noch mache ich mir die Mühe ihnen diese schamlose Frage zu beantworten, aber die Fathers haben da schon lange aufgegeben. Ich habe mich am Anfang nie getraut, das Wesen der Inder, mit denen ich lebe und arbeite, zu beschreiben. Nun, da ich schon zehn Monate hier bin, habe ich ein realistisches Bild vom Wesen der Bengalis in meinem sozialen Umfeld.
Natürlich sind ja nicht alle so wie ich das sage, aber man kann immer von einer gewissen kultur- und lebenslage-bedingten Grundeinstellung ausgehen. Grundsätzlich sind alle Menschen, die mir begegnet sind unglaublich freundlich und gastfreundlich gewesen. Nicht immer höflich, aber immer sehr offenherzig, und das ohne Ausnahme, aber... 
Viele Menschen, die mir in Indien begegnet sind waren recht egozentrisch veranlagt. Das „Ich“ und die Ehre ist sehr wichtig. Und ich würde sagen, gerade hier spielen da Gefühle eine ganz große Rolle. Ich musste mich zum Beispiel einmal mit einem bebenden „I can’t“ zufriedengeben, nachdem ich eine halbe Stunde lang einen erwachsenen Mann gebeten habe, das Gekrakelte auf der Bank wegzumachen, dass er zwar bestreitet, aber unmittelbar vor mir gemacht hat. Er wollte lieber mit den Fathers darüber sprechen, oder es mit mir „wie Männer“ regeln, aber auf keinen Fall sich vielleicht nichts von einem Jüngeren sagen lassen.
Gleichzeitig ist auch die Gemeinschaft ein wichtiges Umfeld. Es gibt in jedem Ort „Clubs“, einen Ort oder Raum, der mit großen Boxen die Nachbarschaft beschallt, wo sich Goondas treffen, oder Cricketmatches geguckt werden. Die Gemeinschaft und vielmehr noch die Gruppe von Menschen ist allgegenwärtig.
Gibt es einen Autounfall wird der Schuldige von einem Mob aus dem Wrack gezogen, geschlagen und auf den Händen der Wütenden, die nicht zwingend Zeugen waren oder gar den Unfall sahen, zur Polizeiwache getragen.
Fragt man einmal nach der Richtung, wird sich sofort ein fachkundiges Komitee bilden, das dir entweder sehr ausführlich den Weg zeigt, oder dich bis zum Ziel begleitet.
Doch allerbesten kann man es mit dem Familienbegriff erklären. Die Familie ist das Ein und Alles besonders der ärmeren Bevölkerung. Wird ein Sohn geboren und ist er irgendwann in einem heiratsfähigen Alter, so wird im gleichen Hof ein Haus gebaut, in dem der Sohn dann mit seiner Familie wohnen soll. Dieser Sohn ist dann die Altersversicherung für die ältere Generation. Zum Beispiel wohnt der Sohn einer unserer Arbeiter neben dem Haus seines Vaters. Er arbeitet in Kolkata und konnte deshalb die OP seines Vaters, der in Kalahrdaya angestellt ist, bezahlen. Dieser Aspekt erklärt auch wunderbar, warum es arrangierte Ehen gibt.
Wird ein Mädchen geboren, so wird es verheiratet und in einen Fremden Haushalt entsendet. Sie wird dann im Idealfall Altersversicherte der Schwiegereltern. Ihr Kind wird nun von den Eltern des Ehemannes erzogen, während sie in der Erziehung ihres eigenen Kindes nur wenig zu sagen hat.
Aber nun zurück zu mir. Ein paar Tage nach Father Saju‘s Geburtstag war der Tag der Abreise der Tanzgruppe gekommen. Nach einem Gottesdienst plus bengalischen Rosenkranz wurde die gesamte Truppe in Jeeps verfrachtet und zu Airport gefahren. Ab dem Zeitpunkt war ich mit Father Thottam alleine. In der Schule passierte nichts mehr zu dem Zeitpunkt, was für mich ein Beschäftigungsdefizit bedeutete. Die Hitze hatte mittlerweile einen Pond fast trocken gelegt. Auch in meinem „Swimmingpool“ wurde das Wasser immer weniger, sodass das Verhältnis Wasser zu Fische/Schlangen/Blutegel immer geringer wurde. Seit dem ich Ende Mai meinen ersten Egel hatte schwimme ich also auch nicht mehr.
Die Hitze wurde ab und zu schwüler und dann von einem Zyklon abgelöst, der angenehme Winde und Regen brachte, bevor die Hitze zurückkam. Die Abstände zwischen den Zyklonen werden immer kürzer, bis der Regen von Mitte Juni bis Oktober nicht mehr aufhören wird.
Zur jetzigen Zeit sind Mangos, Litschis und andere Früchte reif, die mir das Leben versüßt haben. In der freien Zeit bin ich dann ein paar Mal mit Father Thottam zu Besuchen oder zu Lunch- bzw. Dinnereinladungen mitgegangen oder habe mit ihm im Garten gearbeitet. In der letzten Woche habe ich dann auch noch Besuch von zwei deutschen Freiwilligen bekommen und konnte mit ihnen ein paar schöne Tage verbringen. Nun bin ich gerade dabei die große Kunst des indischen Kochens von unserer Maschi (Haushälterin) zu lernen, was ihr und mir großen Spaß macht.

Und so genieße ich die letzten Wochen, bevor ich am 23. Juni zurückfliege und weiß jetzt schon, dass ich mit gemischten Gefühlen in das Flugzeug steigen werde.