Der April endete mit brutaler Hitze. Die
indische Regierung hatte allen Schulen, nicht nur in West Bengalen, Hitzefrei
auf unbestimmten Zeitraum erteilt. Temperaturen bis zu 45 Grad Celsius und eine
ekelhafte Luftfeuchtigkeit machten uns das Leben schwer, weil wir nicht selten
keinen Strom und dadurch auch keinen Fan hatten. Zu dieser Zeit bereitete mein
tanzender Father Saju eine ausgewählte Gruppe von Mädchen aus der Umgebung, die
seit vielen Jahren bei ihm tanzen, auf eine einmonatige Tanztournee durch das
deutschsprachige Mitteleuropa vor. Und wenn Father Saju Vorbereitung sagt, dann
sind das jeden mind. fünf Stunden tanzen und proben. Die Gruppe, die in vielen
katholischen Institutionen aufgetreten ist, hat ein Dance-Drama vorbereitet,
welches ein paar Wochen vor der Abreise in Patna, Bihar von ihnen uraufgeführt
wurde. Für einige der Mädchen war es die erste Aufführung ohne ihre Eltern im
Publikum und ein kleiner Vorgeschmack auf die Zeit in Europa. In der
schulfreien Zeit hatte ich viel Freizeit. Jene habe ich genutzt um in der
Schule ein wenig Gitarrenunterricht zu geben und in der Schulband mitzuwirken.
Nach ein paar Tage hat mir Father Amulya, der sehr musikinteressiert ist und
die Schulband auf die Beine gestellt hat, die Aufsicht und Leitung der
15-köpfigen Band für ein paar Wochen überlassen.
Unterbrochen wurde diese recht entspannte
Routine vom Election Day. Wenn an jedem Tuktuk politische Fahnen und Banner
hängen und die Straßen voll von Lautsprechern sind, die verschiedenste
politische Botschaften über die Teiche und durch die Siedlungen posaunen, dann
weiß man, dass bald eine Wahl ansteht. Die Wahlbeteiligung der Bevölkerung ist
enorm. Jeder der kann geht zur Wahlurne, die die nicht gehen, würden es aber
gerne. Meist wird jede Wahlurne von sogenannten Goondas, den Kleinkriminellen, beherrscht.
Diese Menschen werden von einem der Parteifunktionäre durch Geld oder Geschenke
angeheuert, oder ordnen sich aus politischen Interessensgründen einer Partei
unter. Vor der Wahl sind sie die Propaganda-Maschine, während der Wahl halten
sie, manchmal mit Gewalt, ausgewiesene Parteigegner von der Wahlurne ab. Das
heißt, der jeweilige Name verschwindet auf einmal von der Wählerliste oder der
Zutritt wird verweigert. In meinem Bezirk dominierte zum Glück eine Partei,
weswegen es kaum Aufruhr gab. Doch wenn es zwei rivalisierende Parteien in
einem Bezirk gibt, dann gibt es manchmal Verletzte, selten Tote. Nach der Wahl
wird von der gewinnenden Partei ein großes Fest für die Goondas organisiert und
die Verliererpartei muss sich gut verstecken, denn sonst, wie Father Thottam es
sagte: „They will beat ‘em up!“
Nach der Wahlpanik ging aber wieder alles
seinen Lauf. So bin ich in der folgenden Woche an drei Tagen um 3 Uhr morgens
aufgestanden um mit Father Saju und einer Hand voll Arbeitern die drei
Fischteiche abzufischen. Der erbeutete Fisch wurde dann noch am gleichen Morgen
verkauft, brachte aber leider weniger ein, als wir für das Bevölkern der Teiche
ausgegeben hatten. Zudem wurden zunehmend mehr Bananen geklaut, was die Laune
von Father Saju trübte. Normalerweise hätten wir bei über 80 Bananen Palmen
mind. 8 Stauden pro Woche, von denen wir 7-8 am Markt verkaufen würden, und
jetzt bekommen wir gerade mal eine Staude in zwei Wochen. Das Prinzip dahinter
ist einfach. Keiner möchte einsehen, dass es unser Eigentum ist. Meine
Englischschüler pflücken unreife Guaven und Mangos um sich damit zu bewerfen.
Wen ich ihnen erkläre, dass sie das nicht machen sollen wird nur „warum?“
gefragt. Noch mache ich mir die Mühe ihnen diese schamlose Frage zu
beantworten, aber die Fathers haben da schon lange aufgegeben. Ich habe mich am
Anfang nie getraut, das Wesen der Inder, mit denen ich lebe und arbeite, zu
beschreiben. Nun, da ich schon zehn Monate hier bin, habe ich ein realistisches
Bild vom Wesen der Bengalis in meinem sozialen Umfeld.
Natürlich sind ja nicht alle so wie ich das sage, aber man kann
immer von einer gewissen kultur- und lebenslage-bedingten Grundeinstellung
ausgehen. Grundsätzlich sind alle Menschen, die mir begegnet sind unglaublich freundlich und gastfreundlich gewesen. Nicht immer höflich, aber immer sehr offenherzig, und das ohne Ausnahme, aber...
Viele Menschen, die mir in Indien begegnet sind waren recht
egozentrisch veranlagt. Das „Ich“ und die Ehre ist sehr wichtig. Und ich
würde sagen, gerade hier spielen da Gefühle eine ganz große Rolle. Ich musste
mich zum Beispiel einmal mit einem bebenden „I can’t“ zufriedengeben,
nachdem ich eine halbe Stunde lang einen erwachsenen Mann gebeten habe, das
Gekrakelte auf der Bank wegzumachen, dass er zwar bestreitet, aber unmittelbar
vor mir gemacht hat. Er wollte lieber mit den Fathers darüber sprechen, oder es
mit mir „wie Männer“ regeln, aber auf keinen Fall sich vielleicht nichts von einem
Jüngeren sagen lassen.
Gleichzeitig ist auch die Gemeinschaft ein
wichtiges Umfeld. Es gibt in jedem Ort „Clubs“, einen Ort oder Raum, der mit
großen Boxen die Nachbarschaft beschallt, wo sich Goondas treffen, oder
Cricketmatches geguckt werden. Die Gemeinschaft und vielmehr noch die Gruppe
von Menschen ist allgegenwärtig.
Gibt es einen Autounfall wird der Schuldige
von einem Mob aus dem Wrack gezogen, geschlagen und auf den Händen der
Wütenden, die nicht zwingend Zeugen waren oder gar den Unfall sahen, zur
Polizeiwache getragen.
Fragt man einmal nach der Richtung, wird sich
sofort ein fachkundiges Komitee bilden, das dir entweder sehr ausführlich den
Weg zeigt, oder dich bis zum Ziel begleitet.
Doch allerbesten kann man es mit dem
Familienbegriff erklären. Die Familie ist das Ein und Alles besonders der
ärmeren Bevölkerung. Wird ein Sohn geboren und ist er irgendwann in einem
heiratsfähigen Alter, so wird im gleichen Hof ein Haus gebaut, in dem der Sohn
dann mit seiner Familie wohnen soll. Dieser Sohn ist dann die
Altersversicherung für die ältere Generation. Zum Beispiel wohnt der Sohn einer
unserer Arbeiter neben dem Haus seines Vaters. Er arbeitet in Kolkata und
konnte deshalb die OP seines Vaters, der in Kalahrdaya angestellt ist,
bezahlen. Dieser Aspekt erklärt auch wunderbar, warum es arrangierte Ehen gibt.
Wird ein Mädchen geboren, so wird es
verheiratet und in einen Fremden Haushalt entsendet. Sie wird dann im Idealfall
Altersversicherte der Schwiegereltern. Ihr Kind wird nun von den Eltern des
Ehemannes erzogen, während sie in der Erziehung ihres eigenen Kindes nur wenig
zu sagen hat.
Aber nun zurück zu mir. Ein paar Tage nach
Father Saju‘s Geburtstag war der Tag der Abreise der Tanzgruppe gekommen. Nach
einem Gottesdienst plus bengalischen Rosenkranz wurde die gesamte Truppe in
Jeeps verfrachtet und zu Airport gefahren. Ab dem Zeitpunkt war ich mit Father
Thottam alleine. In der Schule passierte nichts mehr zu dem Zeitpunkt, was für
mich ein Beschäftigungsdefizit bedeutete. Die Hitze hatte mittlerweile einen
Pond fast trocken gelegt. Auch in meinem „Swimmingpool“ wurde das Wasser immer
weniger, sodass das Verhältnis Wasser zu Fische/Schlangen/Blutegel immer geringer
wurde. Seit dem ich Ende Mai meinen ersten Egel hatte schwimme ich also auch
nicht mehr.
Die Hitze wurde ab und zu schwüler und dann
von einem Zyklon abgelöst, der angenehme Winde und Regen brachte, bevor die
Hitze zurückkam. Die Abstände zwischen den Zyklonen werden immer kürzer, bis
der Regen von Mitte Juni bis Oktober nicht mehr aufhören wird.
Zur jetzigen Zeit sind Mangos, Litschis und
andere Früchte reif, die mir das Leben versüßt haben. In der freien Zeit bin ich
dann ein paar Mal mit Father Thottam zu Besuchen oder zu Lunch- bzw.
Dinnereinladungen mitgegangen oder habe mit ihm im Garten gearbeitet. In der
letzten Woche habe ich dann auch noch Besuch von zwei deutschen Freiwilligen
bekommen und konnte mit ihnen ein paar schöne Tage verbringen. Nun bin ich
gerade dabei die große Kunst des indischen Kochens von unserer Maschi
(Haushälterin) zu lernen, was ihr und mir großen Spaß macht.
Und so genieße ich die letzten Wochen, bevor
ich am 23. Juni zurückfliege und weiß jetzt schon, dass ich mit gemischten
Gefühlen in das Flugzeug steigen werde.